Inkunabeln sind Texte und Bücher, die zwischen Gutenberg 1454 und 1501 mit beweglichen Lettern gedruckt wurden. Die Inkunabeln in Hildesheim, also auch die der Dombibliothek, wurden zuletzt Anfang des 20. Jahrhunderts vom Lehrer des Josephinum Gymnasiums Konrad Ernst systematisch erfasst und 1908/1909 als zweibändiger Katalog publiziert. Dieser Katalog ist seitdem das maßgebliche Verzeichnis der sich in Hildesheim befindlichen Inkunabeln.
Da Texte je nach Bedarf mehrfach gedruckt wurden und nicht jeder Drucker seinen Namen, den Druckort oder das Druckdatum angab, stellen Zuordnungen in eine bestimmte Auflage, eine Zuweisung zu einer bestimmten Werkstatt oder die Identifikation ähnlicher, wichtiger bibliographischer Daten, noch heute Wissenschaftler vor große Aufgaben. Und auch bestehende Informationen müssen selbstverständlich stets prüfend betrachtet werden.
Und genau bei einer solchen kurzen Gegenkontrolle ergab sich ein Fund, der zu einer Korrektur im Katalog von Konrad Ernst und zu einem neuen Eintrag im Gesamtkatalog der Wiegendrucke (kurz: GW) führte; Beim routinemäßigen Abgleich eines Buchs mit dem Eintrag im Katalog von Konrad Ernst und dem Eintrag im GW und den dort verzeichneten Digitalisaten von weiteren Drucken dieser Auflage ergab sich Folgendes:
Bei dem Druck mit der Hildesheimer Signatur EG 402 handelt es sich um ein Gebet an die Heilige Anna, verfasst im Jahr 1494 von Johannes Trithemius und gedruckt von Melchior Lotter in Leipzig – leider ohne Nennung des Druckdatums. Diese Angaben sind alle im Druck selbst zu finden. Nach dem Katalog von Konrad Ernst soll dieser Druck identisch mit der Signatur EG 401 sein. Beide sind das Annengebet und beide stammen aus der Leipziger Werkstatt Lotters. Jedoch wurden in der EG 401 die Initialen in den Absätzen nicht mitgedruckt, sondern ein vier Zeilen hoher Platz für den Buchmaler freigelassen, während sie zwei Zeilen hoch in der EG 402 mitgedruckt wurden. Es ist zwar der gleiche Inhalt, aber von Grund auf neu gesetzt.
Zum Glück gibt der GW drei Drucke dieses Textes aus der Werkstatt Lotters an, nämlich GW M47540, M47544 und M47545. Bei den ersten beiden handelt es sich um leicht unterschiedliche Drucke, die jedoch beide besagte vierzeilige Freiplätze haben, und einen mit zweizeilig mitgedruckten Initialen (M47545). Ist das also unsere Ausgabe?
Ein Blick auf den Titel zeigt jedoch einen Unterschied: die Worttrennung beim Zeilenwechsel wird unterschiedlich gelöst, und auch Seite zwei zeigt leichte Unterschiede; und auch der Druckervermerk der letzten Seite ist anders, einmal nennt er sich Melchior Lotter, und einmal hat er seinen Namen latinisiert. Ein genauerer Vergleich ergab, dass die Drucke zwar seitenweise nahezu identisch sind, aber nicht zeichenweise. Auf jeder Seite wurden verschiedene Wörter unterschiedlich abgekürzt.
Lotter hat offenbar für eine neue Auflage des Textes seinen eigenen bestehenden Druck kopiert. Dies war für Neuauflagen eines bestehenden Textes gängige Praxis, da man dann die aufwendige Berechnung abkürzen konnte, wie die Textabschnitte vom Schriftsetzer gewählt werden sollen und wie diese dann gedruckt werden. Dies erschwert aber, je nachdem wie genau „abgeschrieben“ wurde, die Identifikation und Zuweisung sehr, und manche Vergleiche sind erst jetzt durch die zahlreichen Digitalisate in diesem Umfang und in dieser Geschwindigkeit möglich.
Nach einem Gespräch mit Herrn Dr. Eisermann und Herrn Dr. Duntze, beide vom Gesamtkatalog der Wiegendrucke, ergab sich, dass dieser Druck zwar nicht vollkommen unbekannt sei, aber sein GW Eintrag bisher noch fehle und notwendig sei. In Kürze wird es daher einen neuen Eintrag im GW geben, nämlich die Nummer M4754550, die unser Exemplar, eines aus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und eines aus der Staatlichen Bibliothek Regensburg erfasst.
Diese kleine, aber spannende, Entdeckung zeigt, dass wir noch lange nicht alles wissen, auch wenn die Bücher seit Jahrhunderten in unserem Bestand sind und vor über 100 Jahren katalogisiert wurden, und sie lässt vermuten, dass im Inkunabelkatalog von Konrad Ernst bzw. in unserem Regalen noch einige Überraschungen auf uns warten mögen, die erst heute durch die digitalen Methoden zu entdecken sind.